Interview

Welche Welt wollen wir schaffen?/What world do we want to create?

By Merlin Sanow
Graswurzel Revolution
April 1st, 2018

Ein Interview mit Scott Crow über die Situation in den USA, selbstorganisierte Katastrophenhilfe und mögliche Perspektiven eines anarchistischen Infrastrukturaufbaus

 428 april 2018  anarchismus transnationales

Scott Crow ist seit über 30 Jahren in der anarchistischen Bewegung in den USA aktiv. Während dieser Zeit hat er sich an zahlreichen Projekten in Bereichen wie Antifaschismus, Katastrophenhilfe und Medien beteiligt. Nach dem Hurrikan Katrina 2005 im Südosten der USA (vgl. GWR 305 & 313) baute er das Kollektiv Common Ground mit auf. Hierüber schrieb er das Buch “Black Flags and Windmills: Hope, Anarchy, and the Common Ground Collective”. Sein gerade neu erschienenes Buch “Setting Sights: Histories and Reflections on Community Armed Self-Defense” setzt sich mit den Auswirkungen bewaffneter Selbstverteidigung auf Gemeinschaften auseinander. Merlin Sandow sprach während seines GWR-Praktikums für die Graswurzelrevolution mit Scott Crow über die Lage in den USA nach der Wahl von Donald Trump, die dortigen Klimakatastrophen und warum Anarchist*innen mehr als nur Abwehrkämpfe führen sollten. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution (GWR): Wie siehst du die allgemeine Situation in den USA nach der Wahl von Donald Trump?

Scott Crow: Es ist sehr chaotisch. Es ist ein politisches Desaster. Nicht nur wegen seiner Wahl, sondern auch aufgrund der Dinge, die drumherum geschehen sind. Seine Amtsübernahme hat die traditionelle Präsidentschaft und die gewohnte Art, Politik zu machen, in einer Weise zerstört, wie Anarchist*innen es nie gekonnt hätten. Das ist erfreulich und interessant. Anderseits unterstützt seine Präsidentschaft die weiße Vorherrschaft sehr offen. In den Vereinigten Staaten sagen Präsidenten an der Oberfläche üblicherweise „nette Dinge“, aber seine Präsidentschaft hat die weiße Vorherrschaft auf eine Art zum Florieren gebracht, die es in den USA lang nicht mehr gab. Es gibt reale Auswirkungen auf Arbeiter*innen ohne Papiere, Migrant*innen und Frauen und alle, die marginalisiert werden. Marginalisierte Gemeinschaften werden heute noch mehr marginalisiert.

GWR: Was hältst du von Anarchist*innen, die sich mit Wahlpolitik beschäftigen?

Scott Crow: Falls du nichts anderes machst, ist Wählen in den USA wie Recycling. Wenn du nichts anderes für deine Gemeinschaft tust oder für die Umwelt, für menschliche oder nicht-menschliche Tiere, dann solltest du wenigstens wählen und recyceln. Beide Handlungen sind aber beschränkt. Zu denken, sie würden die Welt retten und Veränderung bringen, ist ein Wunschtraum. Aber in den USA gibt es einen tiefen Graben zwischen Wähler*innen und Nichtwähler*innen: Es gibt Menschen, die wählen, und wenn du nicht wählst, denken sie, du wärst scheiße: „Du bist nicht gut. Du bist ein schlechter Mensch.“ Was sie sich nicht klar machen, ist: Sie schaffen keine wirkliche Veränderung, sie erhalten nur den Status Quo. Sie verschließen zugleich eine ganze Welt, die sich für uns öffnen und Veränderungen bringen könnte, weil sie im Prinzip weitermachen wollen wie bisher, auch wenn ihnen die Richtung selbst nicht gefällt. Wie viele Leute sehen wir mit gerümpfter Nase wählen. Sie halten sich die Nase zu, machen ihr Kreuz und beschweren sich dann. Deshalb frage ich: Was, wenn wir uns als mehr sähen als nur Wähler*innen, mehr als nur Konsument*innen, die versuchen, die richtigen Produkte zu kaufen, und mehr als nur Aktivist*innen, die protestieren können?

Was, wenn wir beginnen würden, Politik und unseren Einsatz anders zu sehen: Als Wege ins Unbekannte, wo wir noch keine Antworten haben. Diese Wege ins Offene müssen nicht abstrakt sein, wir sehen sie in unserem alltäglichen Leben. Aber sie sind etwas anderes als zu sagen, ich stimme für dies oder jenes.

Es ist schwerer, sich ein alternatives politisches System vorzustellen als ein alternatives Wirtschaftssystem. Menschen, die wählen gehen, tun sich schwer, darüber hinaus zu denken, weil ihnen das Andere Angst macht. Es ist etwas Unbekanntes, wir wissen noch nicht, wie es aussehen könnte. Ich sage nicht, dass es immer besser wäre, aber es wäre anders. Wenn der bisherige Ansatz nicht funktioniert, sollten wir nicht immerfort gegen die Wand laufen. Stattdessen sollten wir etwas Neues probieren. Damit gehen wir hinaus über die Frage, ob wir wählen sollen oder nicht. Plötzlich erweitern sich unsere Möglichkeiten, und wir haben viel mehr Optionen.

GWR: Sprechen wir über den Klimawandel. Donald Trump hat ja behauptet, der Klimawandel sei eine Erfindung Chinas, er hat auch andere Erklärungen geäußert, er ändert seine Meinung jede Woche. Viele Amerikaner*innen stimmen ihm zu: Sie glauben nicht an den Klimawandel oder sagen, er wäre nicht von Menschen gemacht. Glaubst du, die jüngsten Klimakatastrophen, wie die Hurrikans, haben etwas daran geändert?

Scott Crow: Nein. Alles, was du sagst, trifft zu. Es hat sich nichts geändert. Es ist mehr als nur ein Leugnen. Es gibt eine ganze Industrie, die den Klimawandel bis heute leugnet, und eine ganze politische Sphäre auf dem rechten Flügel der US-Politik, die mit diesem Ansatz Geld macht. Da ist viel Geld im Spiel. Es werden bewusst unwissenschaftliche Konferenzen veranstaltet. Wissenschaft basiert entweder auf Fakten, oder sie ist keine Wissenschaft. Viele Menschen, die den Klimawandel leugnen, es sei denn sie haben ein ökonomisches Interesse, glauben an Gott. Ich meine, wenn man an das eine Märchen glaubt, warum sollte man nicht auch an das andere glauben.

Das Problem ist, es spielt keine Rolle, was die Menschen glauben, der Klimawandel geschieht trotzdem. Man kann ihm nicht entkommen. Es ist wie beim Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt. Das ändert nichts an dem, was passiert.

Allerdings habe ich eine spannende Beobachtung gemacht: Wenn es tatsächlich zu einer Naturkatastrophe kommt, tauchen plötzlich Menschen auf, die meine ideologischen Feind*innen sind, und retten andere Menschen aus den Fluten, weil sie in dieser Situation die Politik beiseitelassen. Das ist eine wunderbare Sache.

GWR: Du warst nach Hurrikan Harvey in Houston aktiv. Was war die Hilfe, die du geleistet hast?

Scott Crow: Ich habe bei der Koordinierung und vor allem Kommunikation geholfen. Ich habe Medienarbeit gemacht und über dezentrale Katastrophenhilfe gesprochen. Nebenbei konnten wir so das mediale Bild der Antifa-Aktivist*innen beeinflussen. Es hatte eine ausgeprägte mediale Dämonisierung von antifaschistisch aktiven Menschen gegeben. In den Medien habe ich aufgezeigt, dass oft diejenigen, die in den Medien dämonisiert wurden, jetzt in der Katastrophe als Ersthelfer*innen vor Ort waren, in Houston, Texas, Florida und Mexiko.

Außerdem koordinierte ich verschiedene Gruppen. Sie machten die eigentliche Arbeit, ich verstärkte nur, was sie taten, beriet und koordinierte sie. Es waren ja nicht nur die großen Städte betroffen, sondern viele kleine Ortschaften, über die niemand spricht.

Sie waren gefüllt mit Menschen ohne Papiere, mit Migrant*innen, Armen und Menschen vom Land. Das sind Menschen, die von der offiziellen Katastrophenhilfe oft „vergessen“ werden. Deshalb ist dezentrale Katastrophenhilfe so wichtig.

GWR: Ja, zum Beispiel können marginalisierte Menschen keine Hochwasserversicherung abschließen.

Scott Crow: Stimmt. Wie ich bereits gesagt habe, fand ich es interessant, dass auch Menschen, die unsere ideologischen Feind*innen sind, Miliz-Mitglieder, Ersthelfer*innen waren. Sie halfen nicht nur weißen Menschen, sie halfen Chicanos und Schwarzen. Vielleicht hatten sie sie kurz zuvor noch rassistisch beschimpft, und jetzt streckten sie die Hand aus, um ihnen aus dem Wasser in ihr Boot zu helfen.

Katastrophen zeigen das Versagen des Kapitalismus und des Staates deutlicher als jedes andere Problem. Sie zeigen auch die Öffnungen, wo Menschen wie du und ich Schritte machen können, um Menschen zu helfen, ihr Leben wieder aufzubauen, nicht nur auf kurze Sicht, sondern auf andere, auf befreiende Weise.

GWR: Wie kann eine solche andere Art des Wiederaufbaus aussehen?

Scott Crow: Es gibt zwei Positionen, die ich sehr unterstütze. Die eine ist, autonome, widerständige Gemeinschaften aufzubauen. Katastrophen können ökologisch sein, ökonomisch, politisch oder eine Form von Krieg. Wenn wir beginnen, kleine autonome, resiliente Gemeinschaften zu bauen, haben wir bereits Stärke in ihnen eingebaut. Wenn die Katastrophe sie trifft, können wir damit umgehen. Das ist ein Teil. Aber der Hauptteil ist es, dies in einem Rahmen eines dualen Machtkonzepts zu tun. Damit meine ich nicht den alten, toten, kommunistischen dualen Ansatz, der sich auf den Aufbau von Gegenmacht beschränkt. Sondern duale Macht, wo wir widerstehen und rebellieren auf der einen Seite, aber aufbauen und erschaffen auf der anderen. Wir müssen beides gleichzeitig tun, und ich appelliere an alle Anarchist*innen, duale Macht in allem zu nutzen, was wir tun.

Wenn wir das nämlich nicht tun, werden Gemeinschaften und Länder weiterhin untergehen, wegen der langsamen Katastrophe, die wir nicht sehen. Vielleicht hat Deutschland gerade keine gigantische Krise, aber die USA schon. So ein großes Land ist immer in der Krise, und international sind viele Orte in der Krise. Es passieren immer Katastrophen irgendeiner Art. Was wäre, wenn Gemeinschaften in der Lage wären, sich autonom resilient aufzubauen, und sie dann Solidaritätsnetzwerke haben, die in der Lage sind, ihnen Ressourcen bereitzustellen, durch unterschiedliche Kanäle, die aufgrund des kapitalistischen Modells vorher nicht existierten?

GWR: Mir gefällt diese Verbindung von Wiederaufbau und Widerstand. Wenn wir uns Deutschland ansehen, ist es schwer, hier aktiv zu werden in solchen Freiräumen. Der Staat hat solch eine Kontrolle auf jedem Gebiet. Um Katastrophen „kümmern“ sich meist staatliche Organisationen oder liberale Nichtregierungsorganisationen wie das Rote Kreuz.

Scott Crow: Das ist hier genauso. Es ist sogar schwierig, überhaupt Räume zu bekommen. Beim Aufbau-Teil dualer Macht, also beim Aufbau von Gesundheitsvorsorge, Bildung, Nahrungsmittelversorgung, Sicherheit und Kinderfürsorge müssen wir uns fragen: Wie kümmern wir uns um die älteren, wie um körperlich eingeschränkte Menschen, wie setzten wir Regeln durch? All die Kommunikation, wie machen wir das? Wir müssen anfangen, diese Strukturen kleinteiliger zu machen, weil sie dann belastbarer sind.

GWR: Du sprachst darüber, wie schwierig es ist, Räume zu bekommen.

Scott Crow: Ja, das ist sehr schwierig. Vielleicht ist es bei euch die Regierung, für uns sind es die Regierung und der Kapitalismus. Ich lebe in Austin, Texas, da bekommst du keine Räume. Ein Raum kostet tausende Dollar jeden Monat. Deshalb müssen wir kreativ sein und darüber nachdenken wie wir Räume nicht nur durch Besetzungen übernehmen können.

Natürlich können wir Besetzungen durchführen, das ist Direkte Aktion, aber für die langfristige Schaffung von Räumen brauchen wir außerdem Formen ökonomischer Autonomie. Ich habe noch viele andere Ideen dazu. Ich würde sagen, eines der Probleme beim Aufbau von Infrastruktur ist, dass sie oft liberal wird. Sie verliert ihren befreienden Teil. Somit ist die Frage, die ich stellen würde: Können wir Räume schaffen, die ihr befreiendes Potential erhalten, und wenn ja, wie sieht das aus? Das ist etwas, das jenseits meiner Erfahrungen liegt, weil bisher jedes Projekt, das ich aufgebaut habe, liberalisiert wurde, sofern es von Dauer war.

Aber es gibt eine paar Projekte wie „Treasure City Thrift“, ein von Anarchist*innen betriebener Secondhandladen, der eine gewisse Balance hält zwischen liberalen Notwendigkeiten und befreiendem Potential.

Wenn die Polizei eine Gruppe von Anarchist*innen angreift und wir brauchen eine Solidaritätserklärung oder Geld für Rechtshilfe, unterstützen sie uns öffentlich.

Das ist freiheitlich, aber gleichzeitig unterstützen sie liberale Organisationen.

Ich denke, jede*r, der so aktiv ist, wird diese Erfahrung machen: In den USA will niemand Dinge aufbauen. Alle wollen auf der Straße kämpfen und protestieren. Das ist ein Problem.

GWR: In Deutschland ist es ähnlich, nicht so sehr bei Anarchist*innen, aber z.B. bei anderen Antifaschist*innen. Sie folgen dieser antifaschistischen Idee, die auf ihre Weise durchaus in den Staat integrierbar ist.

Scott Crow: Lass uns über Antifaschismus reden. Er ist eine sehr reaktive Art von Politik. Seine reagierenden Taktiken sind notwendig, aber beschränkt. Das sollten wir uns bewusst machen. Jemand fragte mich neulich, ob wir politische Bewegungen außerhalb des Antifaschismus aufbauen können. Ich sagte, das müssen wir. Weil wir in den USA ein Problem haben, wir versuchen ein ganzes Netzwerk auf Basis von Antifaschismus zu bauen, das Antiracist Action Network. Aber es war in den letzten 30 Jahren immer dysfunktional, nicht sehr effektiv, außer für direkte Konfrontationen.

GWR: Hast du Ideen, wie die Entradikalisierung von Bewegungen vermieden werden könnte?

Scott Crow: Eine Möglichkeit ist, politische und soziale Bewegungen aus Ethik, nicht Moral, zu bauen.

Die andere ist, dass wir aufhören müssen, uns darauf zu konzentrieren, was der Staat tut, und uns zu fragen, was wir selbst wollen. Welche Welt wollen wir schaffen? Und nicht nur weiße Anarchist*innen oder europäische Anarchist*innen oder amerikanische Anarchist*innen, sondern was Menschen in allen Ecken der Welt wollen und wie wir das erreichen. Das ist etwas anderes als zu sagen: „Ich muss das bekämpfen und stoppen.“ Es ist wichtig diese Sachen zu stoppen, aber alles was wir tun ist: „Stoppen, stoppen, stoppen“.

Wenn wir das tun, setzen wir Zeit, Geld und Menschen ein, welche wir nur begrenzt haben. Wir halten nicht an, um durchzuatmen und uns zu fragen, was wollen wir und wie kommen wir dahin. Darum ermutige ich eine Politik der Auseinandersetzung mit Möglichkeiten, statt einer Politik der Reaktion und nur der Rebellion. Wir brauchen beides, aber wir brauchen gerade mehr Möglichkeiten, und für mich sind Katastrophen der Ort geworden, welcher das am deutlichsten zeigt. Deshalb schreibe ich über Katastrophen, weil ich nicht nur Hurrikan Katrina erlebt habe, sondern ich war auch in Washington D.C. am 11. September 2001. Das war das erste Mal, dass ich den Staat die Kontrolle über alles verlieren sah. Damals fragten wir uns, was wir tun können. Wir hatten keine Ahnung, weil wir noch nie darüber nachgedacht hatten.

Vier Jahre später kam Hurrikan Katrina und ich stellte mir die gleiche Frage.

Als dieser Sturm wütete, sagte ich: „Lasst uns das machen, lasst uns die zivile Gesellschaft wieder aufbauen. Was würden die Zaptistas tun? Was hätte die Black Panther Party getan? Was würden wir als Anarchist*innen tun?“ Es muss nicht immer groß sein, aber wir müssen aufhören, nur über einen Infoladen, eine Küche für Alle, ein Soziales Zentrum nachzudenken. Wir brauchen viele davon, überall, zu jeder Zeit. Der andere Punkt ist, dass wir in den USA ein Problem mit politischer Reife haben. Es liegt nicht daran, dass die Menschen dumm sind. Diese Leute, egal, ob sie sich Aktivist*innen, Anarchist*innen oder was auch immer nennen, sie versuchen immer noch herauszubekommen, wer sie sind und was ihre ethischen Grundlagen und Werte sind, und wer sie im Identitätsspektrum sind. Wenn du Zeit damit verbringst, ist es schwer, in größeren Maßstäben zu denken. In dreißig Jahren habe ich zehntausende Menschen in politische Bewegungen kommen und sie auch wieder verlassen sehen. Sie nehmen so viele wertvolle Ressourcen mit sich, besonders in den USA. Ich habe es auch an anderen Orten gesehen, in Kanada. Das passiert, weil wir nichts anzubieten haben für Menschen, die nicht mehr ganz jung sind oder nicht alles aufgeben wollen.

Es gibt keinen Ort der Fürsorge für Kinder, keinen Ort für ältere Menschen, keinen Ort für Familien, keinen Ort, wo wir uns bilden und wachsen können. Es gibt keine Jobs, es gibt keine Infrastruktur.

Wir müssen die Frage stellen, wie anarchistische Gemeinschaften aussehen. Wir müssen diese Dinge aufbauen, weil wir sie brauchen. Solange wir das nicht ernst nehmen, weiß ich nicht, ob wir uns vorwärts bewegen. Katastrophen können uns helfen, hier voranzukommen.

Wenn du alles verlierst, bist du viel eher bereit, Neues auszuprobieren: „Lasst uns etwas versuchen, weil es nichts anderes mehr gibt. Alles ist weg.“

Aber wie machen wir das außerhalb von Katastrophen? Darauf habe ich keine Antwort.

GWR: Vielleicht können wir über Common Ground reden. Wann wurde es gegründet und was passierte danach?

Scott Crow: Common Ground formierte sich 2005, in der Zeit nach Hurrikan Katrina, im Süden der Vereinigten Staaten. Es basierte auf Ideen, die ich schon einige Jahre in mir getragen hatte. Erst war es nur eine Such- und Rettungsaktion, um einen Freund von uns zu finden, der ein früheres Mitglied der Black Panther war. Dann wurde es zu einem Projekt bewaffneter Selbstverteidigung der Menschen dieser Gemeinschaft, schwarzer Mitglieder der Gemeinschaft gegen weiße Menschen, die Schwarze töteten. So nahmen ich, ein anderer weißer Mann und drei schwarze Männer Waffen in die Hand. Gegen andere weiße Männer. Das war antifaschistische Arbeit. Danach begannen wir zwei Dinge zu tun. Wir begannen Infrastruktur zu schaffen, die vorher nie in der Gemeinschaft existiert hatte, und Infrastruktur wieder aufzubauen, die schon lange zerfallen war: Gesundheitsversorgung, Bildung, Ernährung, Sicherheit. So haben wir Kliniken gebaut oder Gemeinschaftsgärten. Wir kämpften gegen die Polizei. Wir organisierten Proteste. Wir arbeiteten mit indigenen Gemeinschaften, aber die Prämisse war: Nicht wir haben die Antwort. Wir kamen in die Gemeinschaften und unterschiedlichen Siedlungen und fragten stattdessen, was die Menschen wollten.

Das Rote Kreuz kam und gab allen die gleichen Sachen. Common Ground hingegen fragte: „Was braucht ihr?“ Das war keine Akuthilfe, sondern ein jahrelanger Prozess.

Wir begannen eine Klinik zu bauen und überließen sie den Menschen so, dass sie sie selbst führen konnten. Das war das Ideal, es lief nicht immer schön, und intern arbeiteten wir auch an befreienden Prinzipien und Ideen. Wir hatten keine Regeln für die Organisation, wir hatten Richtlinien. Die 36.000 Menschen, die kamen, mussten keine Anarchist*innen sein, aber wir versuchten ihnen anarchistische Ideen näherzubringen: Direkte Aktion, Gegenseitige Hilfe, Kooperation und Autonomie – und wir sprachen auch über den tief verwurzelten Rassismus in den USA.

All das taten wir. Wir weigerten uns, mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Das machte uns zu Feinden des Staates. Das war der Anfang des Kollektivs Common Ground.

GWR: Möchtest du noch etwas hinzufügen?

Scott Crow: Jeder Tag eröffnet uns Freiräume, etwas zu tun. Die Geschichte ist noch nicht geschrieben. Wir sind es, die sie mit jeder Minute weiterschreiben, und das sollten wir uns bewusst machen. Wenn wir denken, dass alles schon gelaufen ist, dann versuchen wir nichts mehr. Hoffnung: Sie ist der Grund, warum ich jeden Tag aufstehe, obwohl ich Nihilist bin. Wir sollten die Welt nicht nur als das Gewordene, sondern als einen Ort der Möglichkeiten sehen.

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