PM Press Blog, Review

Alf Mayer mit Reading ahead (22): Radical Science Fiction, 1950-1985

By Alf Mayer
CrimeMag
December 1st, 2021

Gefährliche Visionen und neue Welten

Zum neuen Band „Dangerous Visions and New Worlds“ von Andrew Nette und Iain McIntyre

Wir alle haben uns schon weit mehr getraut. Haben größere Träume gehabt. Haben sogar die Weltrevolution für möglich gehalten. Und bessere Welten. Das wurde uns – ich bin Jahrgang 1952 – und den folgenden Generationen inzwischen ziemlich ausgetrieben. Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen, höhnte der bis heute verehrte Sozialdemokrat Helmut Schmidt. Heute ist die Zukunft nur noch Dystopie. Im Nachhinein betrachtet, muss man die Zeit der späten 1950er bis Mitte der 1980er als wohl unvergleichlich kreativ, subversiv und transgressiv in einen goldenen Betrachtungsrahmen stellen. So viel literarischer Neuanfang und Grenzüberschreitung war nie. (Mehr.) Das literarische Medium dafür: hauptsächlich die Science Fiction. (Zu ihrer Verbindung mit der Kriminalliteratur hat Thomas Wörtche bereits 2007 luzide geschrieben: Desaster as usual.)

Jetzt gibt es endlich das Buch dazu. Und es ist ein Hammer, auch visuell. Sein Titel: „Dangerous Visions and New Worlds: Radical Science Fiction 1950 to 1985“, erschienen im libertär-radikalen Verlag PM Press im kalifornischen Oakland, die Herausgeber Andrew Nette (unseren Lesern bekannt) und Iain McIntyre leben in Melbourne, die 20 Autorinnen und Autoren kommen aus Australien, Kanada, England, North Carolina, Harlem, Brooklyn, Queens oder Boston. Sie kommen aus der Literaturwissenschaft wie etwa die Kanadierin Kirsten Bussière, eine Spezialistin für postapokalyptische Fiktion, sind Paperback- und Pulp-Spezialisten wie etwa Rebecca Baumann von der Indiana University oder Michael A. Gonzales, der auch über Rap und Hip-hop-Culture veröffentlicht hat. Kelly Robert ist Redakteur von „We are the Mutants“, einem Onlinemagazin mit Fokus auf die Populär- und Subkultur des Kalten Krieges. Scott Adlerberg kennen wir als Romanautor, ebenso Kat Clay, Nick Mamatas oder Donna Glee Williams. Mike Stax ist Rock’n’Roll-Historiker, überhaupt kommt Musik nicht zu kurz. Andrew Nette und Iain McIntyre arbeiten nun schon zum dritten Mal als Herausgeber zusammen, haben bereits die Jugendkultur und die revolutionäre Gegenkultur, wie sie sich in den Pulps niederschlug, erforscht. Meine Besprechungen von „Girl Gangs, Biker Boys, and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950 to 1980“ (2017) und „Sticking it to the Man: Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1956 to 1980“ bei uns auf CulturMag finden Sie hier und hier. 

Das neue Buch rundet nun die Trilogie – und damit den überaus illustrativen Blick auf eine selten kreative Phase. Wie die beiden Vorgänger kombiniert es kurze Essays mit Porträts und Übersichtsartikeln, überrascht mit durchgängig wilden Covern, findet sogar für Orwells „1984“ eine Taschenbuchausgabe von Signet, die es wie einen Roman über Jugenddelinquenz aussehen lässt. Alle drei Bände sind wunderbar lesbar, prallvoll mit Information und Illustration. Populäre Kulturgeschichte at ist finest. (Bisher gab es zur New Wave SF nur Colin Greenlands akademische Studie „The Entropy Exhibition“ von 1983.)

Traum oder Albtraum, Actionroman oder innere Reise, Sex und immer wieder viel Sex, soziale Phantasie oder revolutionäre Welten, feministische Utopien, männliche Untergangsängste, Zeitreisen, Katastrophen, ob techno- oder ökologisch, theologische Debatten oder der Aufschein des Computerzeitalters, das Themenspektrum der hier durchmessenen Sciene Fiction-Romane ist schier unermesslich. Dekliniert Klasse, Rasse, Geschlecht, Sexualität und andere Ungleichheiten auf immer wieder neue Weise neu. „Black Power und fliegende Untertassen“ heißt ein Kapitel, „Radioaktive Albträume“ ein anderes. „Die Zukunft wird langweilig sein“ trägt der Essay zu den SF-Welten des J.G. Ballard als Überschrift – und natürlich ist das eines der Understatement dieses wirklich sehr coolen Buches. Sieben Seiten hat das Ballard-Kapitel. Im Mittelpunkt davon „Die Betoninsel“ (Concrete Island, 1974 erschienen), wo ein „Held“ namens Robert Maitland mitten in der Großstadt nach einem Crash auf einer Verkehrsinsel strandet und zum Robinson wird – noch Andy Weir in „Der Marsianer“ (2011, verfilmt mit Matt Damon) hat davon gestohlen.

Eine Einzelbehandlung erfahren unter anderem auch Barry Malzberg, Ira Levin, die Visionärin James Tiptree Jr. (aka Alice B. Sheldon), Vonda N. McIntyre (an deren „Traumschlange“ ich immer mal wieder denken muss), die schwarze Feministin Octavia Butler ebenso wie ihre Kollegin Judith Merril und die feministische Herland Press. Ursula K.LeGuinn wird ausgiebig verhandelt („Planet der Habenichte“, zum Beispiel), auch Michael Moorcock, Roger Zelazny, John Wyndham, natürlich Samuel R. Delaney, Philip K. Dick oder Marge Piercy mit „Woman on the Edge of Time“. Besonders gefreut hat mich, dass die Brüder Strugatzky verdiente Würdigung erfahren – in diesem Zusammenhang gibt einen kleinen Streifzug durch die aufsässige osteuropäische Science Fiction. 

Und es gibt jede Menge wunderbare Entdeckungen zu machen: „Afro-6“ von Hank Lopez utopiert im Jahr 1969 einen schwarzen Aufstand in den USA, nimmt damit Chester Himes’ 1984 als unvollendetes Fragment hinterlassen „Plan B“ vorweg; leider findet sich kein Hinweis, ob Himes das Buch kannte. Das gilt auch für den militanten Aufständischen-Roman „The Black Commandos“ des Zivilrechtlers Joseph Dennis Jackson aus dem Jahr 1967, dem Co-Herausgeber Iain McIntyre einen längeren Text widmet.

Die 1901 geborene Anna Kavan war eine der ältesten Autorinnen der New Wave, ihr Roman „Ice“ (1967) beschreibt mit großer Poesie die innere und äußere Vereisung der Erde, antizipiert feministische und queere SF-Motive. Brian Aldiss verglich die Autorin mit Mary Shelley, die ebenso ihrer Zeit voraus gewesen sei. (Auf Deutsch bei Diaphanes.) „Cosmic Bond, Super Lover“ heißt der Text über William Blooms „Qhe!“-Serie, einen im Himalaya beheimateten tantrischen Superspion.

Wir erfahren etwas über Tiere, Religion und Drogen in der SF, etwas über die1963 begonnenen Abenteuer des „Doctor Who“, bekommen einen Einblick in die schwule SF-Literatur aus dem Verlag Essex House. „Speculative Fuckbooks“ heißt der achtseitige Beitrage von Rebecca Baumann.

Das Buch über diese kreative Zeit der „langen Sechziger“ beginnt mit zwei sich konträr gegenüberstehenden Offenen Briefen, die 1968 im Magazin „Galaxy Science Fiction“ publiziert wurden. „Wir, die Unterzeichneten, glauben, dass die Vereinigten Staaten in Vietnam bleiben müssen…“ heißt es in dem einen, „Wir sind gegen die Beteiligung an diesem Krieg…“ deklariert der andere. „Antiwar“ und damit „Radikale“ waren Samuel R. Delany, Philip K. Dick, Ursula K. Le Guin und Kate Wilhelm, zu den Konservativen gehörten Marion Zimmer Bradley, L. Sprague de Camp, R.A, Lafferty, Robert A. Heinlein und Larry Niven. Heinlein wie Lafferty erfahren in dem Band aber trotzdem Würdigung als radikale Visionäre. 

Den Terminus „New Wave“ verwendete Merril zuerst 1966. Die New Wave begann zu blühen, als der Anarchist Michael Moorcock die Redaktion des SF-Magazins „New Worlds“ übernahm und es zu einem ambitionierten Vehikel für die literarische Avantgarde des Genres formte. Sein erstes Editorial proklamierte, in jeder Weise unkonventionell sein zu wollen, keine Grenzen mehr gelten zu lassen, alle niederzureißen. Wie Thomas M. Disch  träumte er davon, die SF auf ihr wahres Potential zu heben, nämlich die Erbin von Joyce und Kafka, Beckett und Genet zu sein. Ein anderer Wortführer war James Graham Ballard, der die herkömmlichen Zukunftsromane todlangweilig und banal fand, schon in den Sechzigern verkündet hatte, dass es nicht um die Zukunft, sondern um die Gegenwart gehe, „weil wir alle schon in einem enormen Roman leben. Die Fiktion ist schon da. Die Aufgabe des Schriftstellers ist es, die Realität zu erfinden.“ Je mehr die Welt Menschenwerk sei, von Technologien geformt, desto mehr lebe man in Träumen und Fetischen, der Substanz des inneren Lebens. Ballard schrieb „kondensierte Romane“, wie er sie nannte, mit Titeln wie „Why I Want to Fuck Ronald Reagan“ oder „The Assassination of John Fitzgerald Kennedy Considered as a Downhill Motor Race“. Eine von ihm kuratierte Ausstellung von Unfallautos wurde zur Vorstufe für seinen Roman „Crash“.

Die Energie dieser neuen Bewegung strahlte schnell über die Welt, auch US-Autoren schickten ihre radikalsten Werke nach England zu „New Worlds“. Die amerikanische New Wave fand sich am meisten repräsentiert in der von Damon Knight und Harlan Ellison herausgegeben „Orbit“-Anthologie „Dangerous Visons“. Ellison, der mit Martin Luther King marschiert war, schrieb in der Einleitung, die Sammlung sei entstanden aus dem Bedürfnis nach neuen Formen, neuen Stilen, neuen Herausforderungen, neuen Horizonten.

Transgressiv übrigens – ein Wort, das ich weiter oben gebraucht habe – kommt aus der Geologie und bezeichnete ursprünglich das landwärtige Vorrücken einer Küstenlinie, ein diskordantes Aufliegen söhliger Schichten übereinander, konkret jüngere „nasse Bildungen“ auf vormals trocken liegendem Land. Landgewinn also. Fruchtbar und neu. Bis zum (ganz vier Seiten langen) Kapitel über dystopische Science Fiction der 1970er übrigens braucht das hier besprochene Buch 165 Seiten. So viel unzensiert utopisch-wilde Zukunft war nie wieder…

Alf Mayer

Andrew Nette & Iain McIntyre (ed): Dangerous Visions and New Worlds: Radical Science Fiction 1950 to 1985. PM Press, Oakland CA 2021. 218 pages, USD 29,95. Verlagsinformationen. Andrew Nettes Blog Pulpcurry.

Reading ahead mit CrimeMag:
(21) Adam Morris: Bird
(20) David Whish-Wilson: True West
(19) Andrew Nette and Iain McIntyre (ed): Sticking it to The Man: Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1950 to 1980
(18) David Whish-Wilson: The Coves
(17) Rachel Kushner: The Mars Room
(16) Stephen Greenblatt: Tyrant
(15) John Harvey: Body & Soul
(14) Iain McIntyre and Andrew Nette: Girl Gangs, Biker Boys and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950-1980
(13) The Illustrated Ross Macdonald Archives
(12) Peter Blauner: Proving Ground
(11) Mike Ripley: Kiss Kiss Bang Bang
(10) Stephen Hunter: G-Man
(9) James Ellroys Fotoband: LAPD ’53
(8) Richard Price: The Whites
(7) Dominique Manotti: Noir
(6) Chuck Logan: Falling Angel
(5) Tod Goldberg: Gangsterland
(4) Gerald Seymour – ein Porträt
(3) Donald E. Westlake: The Getaway-Car
(2) Garry Disher: Bitter Wash Road
(1) Lee Child: Personal

Sowie:
Liebe und Terror im Goldenen Zeitalter der Flugzeugentführungen: Brendan I. Koerner: The Skies belong to Us (2013)
Kem Nunn: Chance (2013)
R. J. Ellory: A Quiet Belief in Angels (2012)
Lee Child: Jack Reacher’s Rules (2012)
Charles Bowden: 
Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010)

Tags : Andrew Nette, Iain McIntyre, Science Fiction

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